Der SPIEGEL brachte es aufs Titelblatt: Zwei Hände formen eineRaute, die ihrerseits zu einer Sanduhr umfunktioniert wird. Nur noch wenig Sand rinnt hindurch; das Glas darunter ist fast randvoll. Endzeit lautet die Inschrift. Gemeint ist der Machtverfall der Bundeskanzlerin. Erosion nennt man in der Geologie einen solchen Prozess. Wind und Wasser tragen den verwitterten Boden ab, wenn ihre Scherwirkung auf die Partikel größer ist als die Haftreibung der Partikel untereinander. Das kann, wenn man der Natur ihren Lauf lässt, Jahrhunderte dauern. Schneller geht es, wenn der Mensch nachhilft.
Erosionen wohin man blickt. Im Fußball fällt eine komplette Nationalmannschaft auseinander. Ein Kunstschuss scheint noch zu genügen, um den Erosionsprozess aufzuhalten, ehe das Desaster in seinem ganzen Ausmaß sichtbar wird. Ob es dem Asylkompromiss ähnlich ergehen wird, bleibt eine spannende Frage. Fest steht schon jetzt, dass das deutsche Ansehen, vom Dieselskandal ohnehin angefressen, noch rascher dahinschwindet.
Lassen sich Erosionen auch in den Gefilden der Kommunen beobachten? Überall gibt es Klagen über den Verfall der Umgangsformen. Freiheit sucht sich ihre Bahn ohne Rücksicht auf die Freiheit des Anderen. Der Respekt vor Institutionen macht einem aggressiven Verhalten Platz. Eine Ampel gilt nur dann als rot, wenn sie fotografisch überwacht wird.
In Freiburg haben sie den Oberbürgermeister abgewählt. Sechzehn Jahre seien genug, meinten die Wähler. In Freiburg, wie gesagt.
Auf der Suche nach zivilem Ungehorsam wird man im wohlhabenden und saturierten Bietigheim zur Zeit nicht auf Anhieb fündig. Und wenn, wie kürzlich geschehen, im Gemeinderat eine Vorlage mit Zweidrittelmehrheit abgelehnt wird, dann ist das keine Erosionserscheinung, sondern im Gegenteil ein Beweis, dass die Demokratie intakt ist und es keiner erodierenden Kräfte an ihren politischen und sozialen Rändern bedarf. Dort, wo solche Kräfte, ausgestattet mit zweistelligen Mandaten, zu walten versuchen, muss ihnen so lange Einhalt geboten werden, bis sie, getreu den Worten ihres Vorsitzenden, nichts anderes sind als ein Vogelschiss in der Geschichte der deutschen Demokratie. Dann werden wir auch Starkregen und Hagelschlag überstehen.
Dr. Georg Mehrle